Erkenntnisse aus einem Jahr Freiwilligendienst in Paraguay

Freiwilligendienst - am Malen

Oft werde ich gefragt, woher mein ausgeprägtes Interesse an sozialen und gesellschaftlichen Themen rührt – hatte ich ja ursprünglich BWL studiert. Und da geht es schließlich um Zahlen, Daten, Fakten, weniger um den Menschen. Doch in Wahrheit stieß mir die Art und Weise, wie im Bachelor nachhaltige Fragestellungen behandelt wurden, übel auf. Während der letzten zwei Semester verspürte ich den Drang, über den Tellerrand hinauszublicken. Ich wollte wieder raus in die Welt, dieses Mal aber in eines der „third world countries“, deren Namen bei meinen Kommiliton:innen höchstens in einem Nebensatz fielen. Ein Freiwilligendienst erschien mir als eine gute Option.

Ich haderte nicht lange mit der Entscheidung und wählte für mein Vorhaben einen Ort, der mir bis dato fremd war: Paraguay. Lernen wollte ich, meinen Wissensdurst stillen. Und ja, das würde ich.

Ein Freiwilligendienst ist vieles, aber nicht einfach

Paraguay liegt mitten im Herzen von Südamerika, versteckt zwischen Brasilien, Argentinien und Bolivien. „Ach, die Ecke kennst du schon, dann hast du wenigstens keinen Kulturschock“, sagte eine Freundin kurz vor Abflug zu mir. „In Chile hast du ja auch Spanisch gesprochen.“ Mit „die Ecke“ verallgemeinerte sie wohl unabsichtlich eine Fläche fast 50-mal so groß wie Deutschland, auf der über 428 Millionen Menschen leben. Es stimmte zwar, dass man in Paraguay dieselbe Sprache spricht wie in jenem Land, in dem ich zwei Jahre zuvor in einem Hotel gejobbt hatte. Doch die Intention meiner Reise war eine andere: Ich besuchte Paraguay nicht „nur“ als Reisende, sondern als Freiwillige. Und das änderte alles.

Ein solches Auslandsjahr – in meinem Fall über den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst „weltwärts“ – hält eine simple Botschaft bereit: Wenn du großzügig gibst und offen dafür bist, Neues zu lernen, wirst du dein Leben lang belohnt. Niemand verspricht einem im Voraus eine hübsche Unterkunft oder sonstige Annehmlichkeiten, die man von daheim gewohnt ist. Erwartungen? Wünsche? Hoffnungen? Lieber so wenige wie möglich. Trotzdem war ich bereit für den Sprung ins kalte Wasser.

Ich sah den Freiwilligendienst als eine Möglichkeit, meine Anpassungsfähigkeit zu testen – natürlich inklusive der notwendigen Ernsthaftigkeit, mit der man dem Leben in einem Entwicklungsland begegnen sollte. Ich freute mich auf meine Arbeit in einem Bildungsprojekt mit Jugendlichen. Alles war organisiert, wie immer würde man mich als Neuankömmling in Watte packen. Oder?

Würde man nicht. Nur drei Tage nach meiner Ankunft fühlte ich mich verloren. Nicht, weil es den Menschen um mich herum an Herzlichkeit mangelte – keinesfalls! Und auch nicht, weil mir die Arbeit nicht zusagte. Vielmehr überrannte mich ein Gefühl so komplex, dass mein Kopf zu bersten drohte. Auch heute, sechs Jahre später, kann ich es nicht benennen. Ich fühlte Überforderung. Einsamkeit. Liebe. Lebensfreude. Scham. Alles auf einmal. Wie hatte ich fast 25 Jahre durchs Lebens gehen können, ohne zu ahnen, dass eine völlig andere Welt existierte? Eine Welt, in der sich die Lebensrealität von Grund auf von meiner, der europäischen, unterschied? Vielleicht hatte ich eine Vorstellung von dieser Realität, sie mir aber nicht vollends ausmalen wollen.

Dieses undefinierbare Gefühl ließ mich zwölf Monate lang nicht los. Es erschwerte meine Sicht auf die Dinge, versagte mir, mich zurückzulehnen. Es verlangte von mir, meine Augen zu öffnen und den unbequemen, aber lehrreichen Weg zu nehmen. Es hob warnend den Zeigefinger, wenn ich nicht 100 Prozent gab. Denn dort, in diesem uns unbekannten Land, hatte ich eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.

Als Freiwillige:r fungiert man als Bindeglied zwischen zwei Welten

Zum Glück bucht man nicht einfach einen Freiwilligendienst, setzt sich in den Flieger und fährt zu seiner Unterkunft oder Gastfamilie. Zunächst durchläuft man einen Bewerbungsprozess und mehrere Vorbereitungsseminare. Diese Seminare thematisieren nicht nur das Zielland, sondern auch einen möglichen Kulturschock (den ich entgegen der Vorhersage meiner Freundin sehr wohl durchlebte). Und sie heben immer wieder hervor, was man als Freiwillige:r mit sich trägt: Verantwortung.

In meinem Paraguay-Jahr hatte ich eine Menge Spaß. Ich bin nach Argentinien und Brasilien gereist und habe im Land selbst viel mehr als nur Asunción kennenlernen dürfen. Trotzdem: Ein Freiwilligendienst ist kein Urlaub. Man arbeitet die ganze Zeit – wenn nicht im Projekt, dann an der Verständigung mit der Gastfamilie, mit anderen Kontakten. Oder an sich selbst. Man repräsentiert seine Heimat, ohne den offiziellen Titel „Botschafter:in“ zu tragen.

Ab einem bestimmten Punkt – in meinem Fall bei einem Besuch in den sogenannten Favelas von Asunción – machte es klick: Ich mochte zwar in Deutschland, einer führenden Industrienation, geboren sein, aber am Ende sind wir alle Menschen. Den Kindern, mit denen ich auf einem staubigen Hinterhof spontan Volleyball spielte, war meine Herkunft schnurzpiepegal. Sie behandelten mich wie eine von ihnen – und umgekehrt. So sollte es überall sein, dachte ich. Mit einen Lächeln auf dem Gesicht wischte ich mir bei 40 Grad im Schatten die Schweißperlen von der Stirn. Ich war angekommen.

Ich bin mir darüber bewusst, dass die Verantwortung nicht an Landesgrenzen Halt macht. Mit dem ersten Schritt, den ich auf paraguayischen Boden gesetzt hatte, hatte ich eine Art Vertrag unterzeichnet: Nach dem Freiwilligendienst würde mein Leben ein anderes sein. Es gab kein Zurück. Und jetzt, Jahre später, danke ich mir selbst für den Mut, den ich einst aufgebracht habe.

Erkenntnisse

Was ich aus meinem Jahr als Freiwillige in Paraguay gelernt habe? Zu viel, um es in diesem Fazit-Block aufzulisten. Die Zeit in Südamerika hat mich zu dem Menschen geformt, der ich heute bin. Ich hinterfrage mehr, sehe hin, schätze meine kleine Welt hier in Deutschland – und das jeden einzelnen Tag. Auch wegen Paraguay schreibe ich über die Dinge, über die ich schreibe: soziale Nachhaltigkeit, Wirtschaft, Gesellschaft, Familiengeschichten, Leben und Liebe.

Gerade die Konfrontation mit immenser sozialer Ungleichheit hat mich dazu verleitet, sozialen und gesellschaftlichen Themen mehr Gehör verschaffen zu wollen. Ob in Deutschland oder in Paraguay – diese Dimension der Nachhaltigkeit ist zu essentiell, um sie unter den Tisch zu kehren.

Zusammengefasst möchte ich allen raten, über einen Freiwilligendienst nachzudenken – oder ihn den eigenen Kindern ans Herz zu legen. Die Anstrengung hat sich trotz aller Hürden gelohnt und einen Mehrwert sowohl für die Menschen vor Ort als auch für mich selbst geschaffen. Ob es eine Stelle auf einem anderen Kontinent sein muss? Nein, nicht unbedingt. Engagieren kann man sich überall, auch vor der eigenen Haustür. In meinem Fall aber kann ich sagen: Manchmal führt der Weg zu sich selbst einmal um die Welt.

Danke, Paraguay.

Wer die Perspektive ändert, sieht die Dinge in einem ganz anderen Licht.

Karl Friedrich Schinkel

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