3:15 Uhr.
Vertrautes, spritziges Gequietsche reißt mich aus dem Schlaf. Dein spritziges Gequietsche. Blind taste ich umher. Handylicht an. Mein starrer Blick folgt Konturen an den Schlafzimmerwänden, deren Schatten in ein Bettchen münden. Und siehe da, mit blauen Kulleraugen blinzelst du mir zu, lächelst, und meine kleine Welt steht still.
Schlafe doch noch ein bisschen, denke ich, während mir die Müdigkeit auf die Lider drückt. Du schöpfst Atem wie bei einem langsamen Niesen, stockst, gleitest zurück ins Reich der Träume. Dankbar streife ich über deine kuschelweichen Wangen. Stille. Der Raum färbt sich erst schwarz, dann grau, ozeanblau. Ein Plätschern. Indigo, azur, helltürkis …
Friedlich treibe ich dahin, den Blick auf den Horizont gerichtet. Sehe verschwommen, so als trüge ich eine Taucherbrille, doch mein Kopf ist frei. Das Meer tanzt auf und ab, auf und ab, wie im Rausch. Ich paddele los gen hohe See, voller Erwartung, voller Leben. Oha! Da türmt sich etwas auf, gleich dort hinten! Glücksgeflutet trommelt das Herz gegen meine Brust. Drei, zwei, eins. Und schon breche ich ein in tosende Wellen, begleitet vom Schnattern der Pelikane mit ihren zitronengelben Keschern. Ich stehe, falle, lande mit einem Lächeln auf den Lippen im kühlen Nass.
Ich bin in meinem Element.
3:21 Uhr.
Dein Händchen zupft an unserer Daunendecke. Ich schlage die Augen auf, bestaune es, klein und zerknautscht wie ein Vogelbaby, das in seinem warmen Nestlein kauert.
Schlafe doch noch ein bisschen, bitte ich dich. Es ist mitten in der Nacht, wie der Mond verrät, dort hinter spießigen Gardinen, und seinen schönen Schein bewahrt. Nein, brennst du zu sagen, drückst kräftig zu. Quiekst just in dem Moment, als mein Bewusstsein davonzuhuschen droht. Nur ganz kurz, nur ganz kurz, nur ganz …
Sein Griff war zart. Der Griff dieses Mannes, dessen Name mir entfallen ist. Zart wie die laue Sommernacht, welche sich wie ein Seidentuch über uns legte. Und doch knisterte sie wie Feuerzungen, erinnere ich, als mein Kopf zur Seite kullert. In sicherer Entfernung versinkt die Sonne hinter nadelspitzen Gipfeln, brennend rot, infernogleich. Ein früheres Ich summt fremde Worte, Phrasen, denen ich bald kaum mehr mächtig bin. Es plaudert, lacht, sinniert in flammender Überzeugung, dass die Jugend niemals endet – und wenn doch, nicht heute Nacht. Nicht mit ihm. Im Gegenteil, ich erhebe mich wie ein Phönix aus der Asche, umringt von Luft und Liebe, satt. Wir sind nicht wie sie da draußen, diese fiebrigen Seelen, denen der Alltag Mut und Sinne raubt. Niemals! Der purpurne Drink lockert unsere Füße, lotst sie wie Marionetten über staubiges Parkett. Uns beide, Bachata tanzend auf den Dächern eines lodernden Kontinents.
Ich bin in meinem Element.
3:29 Uhr.
Ein Schrei. Schlaftrunken hieve ich dich hoch. Mein kleiner Schatz, wann bist du nur so schwer geworden? Du streckst dich, reckst dich, blähst auf wie ein Ballon Sekunden vor dem Abflug. Hungrig nach der großen, weiten Welt.
Schlafe doch noch ein bisschen, sage ich zu meinem Bündel Liebe, aber beiße auf Granit. Du protestierst lautstark. Gott, ich bin so müde. Halb so schlimm, bin schon da, stets bereit. Ich ziehe dich an meine Brust, wir werden eins …
Und wieder wandert er, mein Geist, freiheraus, durch Berge, Wälder, Täler. Bepackt von Kopf bis Fuß bahne ich mir den Weg, restlos in Schweigen gehüllt, durch wildes Gras, so grün wie Schmetterlingsraupen. Klick. Wieder ein Schnappschuss, eingefangen für die Ewigkeit. Was werden eines Tages meine Kinder sagen? Zum Panorama hier, diesem Gebirge, ockerfarben, komprimiert auf ein sechs Mal zehn Zentimeter winziges Polaroid? Ich ächze unter rumorendem Magen, müden Beinen, der Wüste im Mund. Was für eine Odyssee! Jede Faser sehnt sich nach dem erlösenden Schluck. Geduld, Nomadin, gleich geschafft! Ich erspähe eine Lichtung fernab der Hügel, übersäht von Wurzeln, die aus der Erde schießen. Moosbewachsen, schattig. Noch hundert Meter, fünfzig, zehn … Nach Atem ringend lasse ich den Backpack zu Boden fallen, und mich gleich hinterher. Ich spüre nach, geerdet, vollkommen. Lawinengleich schießt das Getränk meine Kehle hinunter. Etappenziel erreicht, auf zu neuen Abenteuern.
Ich bin in meinem Element.
3:40 Uhr.
Du hustest, wohl gesättigt, und zwitscherst eine milde Melodie. Ich schmiege mich an den deinen Babyspeck, bete, dass er nicht allzu schnell verschwindet. Du kleine Wärmflasche. Mein Engel. Mein ein und alles.
Schlafe doch noch ein bisschen. Ich küsse deinen kahlen Kopf, überzogen von nichts als feinstem Saum, federweich. Du holst tief Luft, säuselst, raubst mir wie von selbst den Atem.
Und ich? Ich hebe ab, hoch hinaus in den Himmelsraum, frei. Schwebe im Silbervogel durch die Wolken, betrachte sie durch mit Eisblumen geschmückte Kunststoffscheiben. Da, links und rechts und oberhalb der Tragflächen, diese weißen Tupfen auf blauem Firmament, geformt wie Zuckerwatte. Bleiben die so, so pudrig leicht, zig Meilen von hier entfernt? Spielt es denn eine Rolle, philosophiere ich, ist doch der Weg das Ziel? Nein. Und wir bahnen ihn uns, flink wie ein Falke, strecken die Antennen aus nach mehr. Dutzende hundert Meter über dem Meeresspiegel, unnachgiebig, souverän. Losgelöst von Zeit und Raum, die Gliedmaßen ausgestreckt. Es ist, als ob zehntausend Ameisen auf ihnen Marathon laufen, nein, fliegen, seelenruhig, dann in Windeseile. Wie blinde Passagiere, die nicht recht wissen, wohin mit sich. Und dennoch … Diese Vorfreude! Dieses Prickeln! Und alle paar Augenblicke reißt sie mich aus dem Sitz, jene kraftvolle, herrlich beflügelnde Ahnung, dass etwas Großes vor mir liegt.
Ich bin in meinem Element.
3:49 Uhr.
Es ist mucksmäuschenstill. Halt, nicht ganz. Ich höre es, dein leises, gleichmäßiges Schnaufen direkt neben meinem Ohr. Lächele breit, bin ich doch endlich angekommen. Zuhause in einem neuen Leben, ungewohnt beschaulich, aber keinen Funken weniger bunt. Entschleunigt, wenngleich mit halbem Fuß am Gaspedal. Ich bin verrückt nach ihnen, diesen wilden Nächten zwischen Realität und Traum, die den täglichen Trott durchbohren. Wecken sie doch den Vulkan in mir, der nie ganz ruht. Er brodelt, aber mit Bedacht.
Alles zu seiner Zeit.
Schlafe doch noch ein bisschen, sage ich zu mir. Wozu? Jetzt bin ich wach. Hellwach. Du hingegen, mein Herz, magst friedlich schlummern, während sich jäh etwas zusammenbraut. Du bist eine Naturgewalt. Meine Naturgewalt. Fesselnd, unvorhersehbar, fegst du durch mein Leben mit Blitz und Donner. Heute Tsunami, morgen der stillste aller Ozeane. Du bist eine Reise, die niemals endet. One way.
Eine Reise zurück zu mir.
Handylicht aus. Ich strahle in die Nacht hinein. Stolz auf meinen Seelenfrieden, auf diese Vollbremsung mitten im Reiseabenteuerrausch. Stolz darauf, deine Mama zu sein. Nicht perfekt, aber mit perfektem Timing. Lass uns die Welt erobern! Hier und jetzt, anstatt dann und dort.
Voll und ganz in unserem Element.